28.04.2025

Taiwan Today

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Ein Hund als Glücksbringer

01.05.1992
Taiwans Verbundenheit mit der chinesischen Tradition offenbart sich im Detail: Tempelamulette, wie sie vor allem Taxifahrer zum Schutz im Verkehr an ihre Rückspiege1 hängen.
Ein Tempel zur Verehrung eines Hundegeistes ist ein beliebter Ort der Anrufung für Leute, die auf der Suche nach Glück, Gesundheit und Reichtum sind.

Ein Besucher aus dem Ausland, der in einem Taxi durch den dichten Verkehr Taipeis rollt oder in einem der Taipeier Wolkenkratzer den Fahrstuhl zum obersten Stockwerk nimmt, wird sich vielleicht fragen, ob der Geist des alten China in dieser hektischen Stadt überhaupt noch fortbesteht. Ist Taipei denn genau wie jede andere unpersönliche Metropole des 20. Jahrhunderts, die auf dem Weg in die Moderne ihr kulturelles Erbe verloren hat?

Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß die Vergangenheit im zukunftsorientierten Taipei außerordentlich lebendig ist. Ein Amulett baumelt vom Rückspiegel des Taxis, das den Fahrer vor dem schonungslosen Verkehr schützt, und die westlich gekleideten Geschäftsleute im obersten Stockwerk des Hochhauses konsultieren spiritistische Medien, bevor sie auf den Finanzmärkten von Tokio oder New York eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen treffen.

Moderne Technologie hat die alten Götter nicht verdrängt. Im Gegenteil, konfrontiert mit einer sich rasch verändernden Gesellschaft sowie mit einem wild flukturierenden Aktienmarkt, halten die Leute inbrünstiger denn je an ihnen fest. Eine Menge Geld, erwirtschaftet in der florierenden Exportindustrie, hat die Errichtung vieler neuer Tempel und Heiligtümer ermöglicht. Religiöse Feste zu Geburtstagen beliebter Gottheiten, zum Beispiel der Göttin Ma-tsu, ziehen unzählige Menschen an. Und eine wachsende Zahl von professionellen Medien bietet alle möglichen Dienste an, von Heiratsberatungen bis hin zu Investitionskonsultationen.

Vielleicht wird die Koexistenz von moderner Technologie und althergebrachter religiöser Praxis nirgendwo deutlicher als in dem Tempel eines lokalen Kultes für den Geist eines Hundes im Bezirk Shihmen, Landkreis Taipei. Der Tempel der Achtzehn Könige (十八王公) ist auf dem Nordzipfel Taiwans am Ostchinesischen Meer gelegen. Seine Geschichte ist mit dem Bau des benachbarten Kernreaktors verknüpf. Siebzehn der in dem Tempel verehrten "Könige" sind menschlich, der achtzehnte ist ein Hund.

Einer lokalen Legende zufolge wurde vor hundert Jahren nach einem Sturm ein Boot an die Küste geschwemmt, in dem sich die Leichen von 17 Fischern (oder, so eine andere Version, Piraten) befanden. Außerdem war da ein Hund - schwach, aber noch am Leben -, der seinen toten Herren treu blieb. Er beschützte ihre Leichname vor wilden Tieren und Raubvögeln, bis die Leute von Shihmen kamen und sich daran machten, sie zu begraben. Der Hund nun, anstatt das von den mitleidigen Dörflern angebotene Futter anzunehmen, tötete sich durch einen Sprung ins offene Grab und wurde zusammen mit seinen Herren bestattet.

Gemeinschaftsgräber mit den sterblichen Überresten unbekannter Helden sind auf Taiwan in vielen Fällen Stätten religiöser Verehrung. Hungrige Geister ohne Nachkommen, die sich um sie kümmern könnten, müssen besänftigt werden, und die Achtzehn Könige sind da keine Ausnahme. Ein kleiner Schrein wurde über ihrem Grab errichtet, und gelegentlich kamen die Nachbarsleute herüber, um ihnen Räucherwerk zu opfern.

Der Kult blieb ganz auf die Gegend beschränkt, bis die Taiwan Power Company beschloß, daneben ein Kernkraftwerk zu bauen. Nach seiner Fertigstellung in den frühen siebziger Jahren machten Geschichten die Runde, denen zufolge das Kraftwerk ursprünglich so geplant war, daß die geheiligte Grabstätte überbaut worden wäre. Doch, so hieß es weiter, sei selbst schweres Baugerät zu Bruch gegangen, sobald es dem Heiligtum zu nahe kam. Die Ingenieure hätten ihren ursprünglichen Plan aufgeben müssen, und wie jeder Tempelbesucher sehen könne, grenzt die Außenmauer des Kraftwerks nun an die Grabstätte, anstatt sie miteinzubeziehen.

Das ist nicht der einzige Fall in der modernen chinesischen Mythologie, bei dem die Technologie des 20. Jahrhunderts den Kräften geheiligter Objekte nicht ebenbürtig war. In einem Tempel in Taipeis Vorstadt Neihu wird ein großer Felsblock verehrt, der sogenannte "Herr des Gelben Felsblocks". Der Felsen soll, so die Legende, den geplanten Verlauf einer Straße blockiert haben und sei nicht von der Stelle zu bewegen gewesen. Erst als man ihm einen Tempel versprach, ließ er sich zur Seite schaffen.

Der Bau des Kernkraftwerks und die Verbreitung von Geschichten über den fehlgeschlagenen Versuch, das Grab der Achtzehn Könige zu überbauen, trugen dazu bei, den lokalen Kult in einen Rummel zu verwandeln, der ganz Taiwan erfaßt hat. Im Jahre 1975 wurde ein Tempel über der Grabstätte errichtet und daneben ein Parkplatz angelegt, der trotz seiner Größe kaum die täglichen Konvois von Autos, Bussen und Motorrädern aufnehmen kann, mit denen die Pilger aus den nahegelegenen Städten Tamsui, Keelung und Taipei kommen.

Statuen und Bilder beweisen, daß in diesem Tempel ein Hund im Zentrum steht, der aufgrund unerschütterlicher Loyalität zu seinen Herren nun als verläßlicher Schutzgeist gilt. Die gewickelten Schärpen sind mit besonderen Bitten beschrieben.

Es dauerte nicht lange, bis ein Marktplatz neben dem Tempel entstand, mit Dutzenden von Ständen, die den Besuchern von Meeresfrüchten, Bier und berauschenden Betelnüssen bis zu Handlesen und Videospielen alles Erdenkliche bieten. Eine Gruppe lokaler Geschäftsleute versuchte sogar, an dem Kult Geld zu verdienen, indem sie einige Kilometer weiter westlich eine Nachbildung von Grabstätte und Tempel bauten und sie in Anzeigen als das Original anpriesen.

Der Tempel der Achtzehn Könige unterscheidet sich von den meisten anderen Pilgerzentren auf Taiwan dadurch, daß die Objekte der Verehrung keine Götter sind, sondern Geister. Darüber hinaus entspricht ihre Anzahl, nämlich achtzehn, der Zahl der Höllen in der chinesischen Volksreligion. Der Tempel ist deshalb von einer Atmosphäre der Geheimnisse und Gefahr umgeben. Während in den meisten anderen Tempeln im allgemeinen tagsüber gebetet wird, sind die Achtzehn Könige vor allem in der Nacht ansprechbar. Das ist der Grund, weshalb sich der Verkehr auf der Küstenstraße von Tamsui nach Shihmen um Mitternacht und den frühen Morgenstunden Richtung Tempel staut.

Während den Göttern brennendes Räucherwerk geboten wird, erhalten die Geister der Toten auch brennende Zigaretten und die naiven Drucke von Kleidern sowie anderen Artikeln des täglichen Gebrauchs, die Geistern gewöhnlich dargeboten werden. Derweil der Besucher vom Tempelbereich zu der unterirdischen Grabstätte hinabsteigt, verstärkt sich das Gefühl einer verwirrenden und zugleich lockenden Gefährlichkeit noch durch das Krächzen eines Hirtenstares, der ihn in perfektem Mandarin-Chinesisch mit "Was machst du hier bloß?!" ankreischt.

Macht und Wirksamkeit sind somit im Kult der Achtzehn Könige eng mit Gefahr verbunden. Dies umso mehr, als daß der Hund, und nicht die siebzehn Männer, im Zentrum des Kults steht. Die Statuen für den Hund dominieren den Tempelbereich, und es ist sein Abbild, das die von dem Tempel verkauften Amulette ziert.

Traditionelle Darstellungen von der Hölle beispielsweise zeigen die moralisch korrupten Bewohner oft als die hilflosen Opfer wütender Hunde. Und in der Vergangenheit fand in magischen Ritualen das Blut schwarzer Hunde Verwendung. Eine Veränderung in der Einstellung gegenüber Hunden auf Taiwan zeigt sich erst in jüngster Zeit, da unter westlichem Einfluß die Idee des Hundes als Haustier propagiert wird.

Die Atmosphäre von Gefahr, die für den Tempel charakteristisch ist, wird im allgemeinen auch seinen Besuchern zugeschrieben. Vielfach heißt es, daß der Tempel in erster Linie von Prostituierten und Spielern aufgesucht wird. Der Anthropologe Robert Weller hatte ja die Ansicht vertreten, daß es gerade die gesetzestreuen Leute seien, die sich am Besuch eines Tempels delektieren, von dem sie glauben, daß er oft von Kriminellen aufgesucht wird. Die Darstellung der Klientel des Tempels als am Rand der Gesellschaft stehend vermehrt dessen Mysteriosität noch. Doch die Unterschiedlichkeit der Besucher, ganz zu schweigen von ihrer hohen Zahl, schließt die Möglichkeit aus, daß es sich hier um die Domäne marginaler oder krimineller Elemente handelt. So besuchen viele Taxifahrer den Tempel und hängen die Amulette des Tempels an ihre Rückspiegel oder haben kleine Statuen des Hundegeistes, in ein weites Gewand gehüllt, auf ihrem Armaturenbrett.

Legenden und Theater spielten eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung von Götterkulten im alten China. Im Taiwan von heute fungieren Filme und Fernsehserien auf ziemlich ähnliche Weise. Die Achtzehn Könige sind das Thema sowohl eines Filmes als auch einer Fernsehserie in taiwanesischem Dialekt. Sie unterscheiden sich jedoch in einer Hinsicht: während der Film von Wundern berichtet, welche die Achtzehn Könige nach ihrem Tod und ihrer Begrabung in Shihmen vollbracht hätten, preist die Fernsehserie die heroischen Heldentaten, die sie vor ihrem Martyrium vollführt haben sollen.

Der Film ist eine kuriose Mischung aus Geister-Show und Klamauk (dabei oft auf die Prostitution Bezug nehmend, mit welcher der Tempel in Verbindung gebracht wird). Die 1985 ausgestrahlte Fernsehserie hat einen eher ernsthaften und dramatischen Ton und macht aus den Achtzehn Königen tapfere Rebellen, welche die Fremdherrschaft der Mandschu (die Ch'ing-Dynastie, 1644-1912) stürzen und die vorherige Ming-Dynastie (1368-1644) wieder an die Macht bringen wollen. Sie sterben, als sie versuchen, ihren Peinigern über das Meer zu entkommen.

Von einem der Schauspieler heißt es, er habe zu den Achtzehn Königen gebetet und sei tags darauf als Darsteller eines der Könige ausgewählt worden. Das Haar der Schäferhündin Lisa, die den Hundegeist verkörperte, wurde schwarz gefärbt, damit sie den Abbildern der Gottheit entsprach. Ein Produkt von Bekehrungseifer sind weder der Film noch die Fernsehserie, sondern vielmehr aus finanziellen Motivationen heraus entstandene Unterhaltungsproduktionen. Doch belegen sie beide die große Popularität des Kultes der Achtzehn Könige nicht nur, sondern verstärken diese gleichzeitig noch.

Der Tempel der Achtzehn Könige ist nicht der einzige auf Taiwan, in dem ein Hundegeist verehrt wird. Der Tempel der Rechtschaffenen Leute in Chiayi oder der Tempel der Neunzehn Herren in Peikang huldigen ebenfalls Hunden. Diese beiden in Zentraltaiwan gelegenen Tempel haben auffallende Ähnlichkeiten mit dem der Achtzehn Könige. Beide sind über Gemeinschaftsgräbern erbaut, in denen junge Männer und ihre loyalen Hunde ruhen. Anders als im Falle der Achtzehn Könige starben sie jedoch im Kampf, nicht auf See: Die in Chiayi und Peikang begrabenen Helden fanden ihr vorzeitiges Ende im Kampf gegen die Streitkräfte von Lin Shuang-wen, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gegen die Herrschaft der Mandschu rebelliert hatte.

Der Hund von Chiayi ging zum Magistrat von Tainan und bewegte ihn unter vielen Kotaus dazu, ein Befreiungskommando aufzustellen. Doch die Truppen kamen zu spät. Die Herren des Hundes waren bereits tot und ihre Köpfe auf die Stangen der Rebellenfahnen gespießt. Als sie dann zu ihrer letzten Ruhe gelegt wurden, nahm sich der Hund das Leben, indem er seinen Kopf mehrmals gegen den Boden schlug.

Der Hund von Peikang war bekannt für den Beistand, den er seinen Herren beim Angriff und in der Abwehr leistete, indem er sie vor herannahenden Feinden warnte. Er wurde schließlich von den Rebellen vergiftet, die darauf seine Gebieter im Schlaf überraschen konnten und sie ermordeten. Beide Hunde wurden zusammen mit ihren Herren begraben.

Die Tempel in Chiayi und in Peikang sind beide älter als der zur Verehrung der Achtzehn Könige, und ihre Mythen bildeten das Vorbild für den Tempel der letzteren. Doch sind in der Gestaltung ihrer Altäre die Hunde nicht so sehr in den Vordergrund gestellt, noch erfreuen sie sich so großer Popularität wie der Tempel der Achtzehn Könige.

Insofern ist der Kult des Hundes im Tempel der Achtzehn Könige ein besseres Beispiel für die Koexistenz von Tradition und Moderne auf Taiwan. Die von einem Kernreaktor erzeugte Energie kann die Wirksamkeit eines in einem nahegelegenen Tempel verehrten Hundes nicht schmälern. Im Gegenteil, das Kernkraftwerk selbst wird zu einem Teil der Legenden gemacht, die sich um den Hundegeist ranken und die von den modernen Medien auf ganz Taiwan verbreitet wurden.

(Deutsch von Martin Kaiser)

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